Interessanter Link - hätte nicht gedacht, dass ich auf einer "starting strength" website etwas anderes als einen Totalverriss über Multipressen lese.
Die Geschichte vom hässlichen Entlein
Von Thomas Koch, 15.03.2012
In seinem berühmten Märchen Das hässliche Entlein erzählt der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen die Geschichte eines grauen Kükens, das in einer Entenfamilie aufwächst. Weil es dumm und hässlich war, wurde es von den anderen Enten verspottet und entschloss sich daher, die Familie zu verlassen. Nach einer langen Odyssee erkennt das mittlerweile erwachsene Tier, dass es in Wahrheit gar kein Entlein ist, sondern ein schöner und stolzer Schwan, eines der Tiere, die es immer bewundert hat und zu denen es immer gehören wollte.
In wohl jedem Fitnessstudio dieser Welt gibt es ein hässliches Entlein, es nennt sich Multipresse! Kaum ein Gerät im Studio ist so viel Häme ausgesetzt wie dieses. Sie sei disfunktional, gelenkschädigend und überhaupt eh nur das hässliche Geschwisterchen der Langhantel. Niemand mit auch nur etwas Verstand sollte an diesem unsäglichen Teil trainieren!
Ich tue es trotzdem und wisst Ihr was: Ich liebe es!
Doch bevor ich Euch erkläre, warum ich die Multipresse so liebe, möchte ich kurz auf die angeblichen Nachteile und Risiken eingehen, die mit diesem Gerät in Verbindung gebracht werden.
Zunächst ist da der fest vorgegebene Bewegungsweg. Klar, eine herkömmliche Multipresse kennt nur eine Bewegungsdimension und zwar die vertikale. Kritiker argumentieren nun, dass dies aber bei den meisten Bewegungen völlig unnatürlich sei und somit auf Dauer die Gelenke massiv schädigen würde. Und sicher ist es richtig, dass die Multipresse keine reguläre Ausführung von Kniebeugen oder Bankdrücken ermöglicht. Doch muss das unbedingt ein Nachteil sein? Nehmen wir die Kniebeugen: Bei regulären Kniebeugen arbeiten das Hüftgelenk und die Kniegelenke synergistisch zusammen, wobei je nach Ausführung das ein oder das andere Gelenk inklusive der beteiligten Strukturen mehr belastet wird. Die wenigen, die high bar beugen, verlagern somit die Belastung primär auf die Kniegelenke und somit auf den Quadriceps. Doch mal abgesehen von Gewichthebern habe ich in der Praxis bisher fast nie jemanden gesehen, der eine saubere high bar Kniebeuge hinbekommt. In der Regel wird low bar gebeugt, sprich die Stange wird weiter unten auf dem Trapezius abgelegt, der Oberkörper mehr nach vorne gebeugt. Dies bedingt eine stärkere Involvierung der Hüfte und der rückseitigen Muskelschlinge und minimiert den Stress auf die Quads. Aus funktionaler Sicht sicherlich eine tolle Sache, doch was, wenn man schlicht und ergreifend die Quads aufbauen will? Was, wenn Probleme im unteren Rücken den zusätzlichen Stress auf die Hüfte und auch den unteren Rücken selbst diese Art der Ausführung beinahe unmöglich machen? Sicher, man könnte nun ewig und drei Tage versuchen korrekte high bar Kniebeugen zu erlernen, man könnte aber auch einfach in die Multipresse gehen und die Füße ein Stück nach vorne versetzt platzieren, womit man im Grunde exakt die Bewegung einer high bar Kniebeuge simuliert. Ich behaupte an dieser Stelle, dass Kniebeugen in der Multipresse für den Aufbau massiver Quads (Quads, nicht Oberschenkel insgesamt) deutliche effizienter sind, als reguläre Langhantelkniebeugen.
Ähnliches beim Bankdrücken: Niemand außer Powerliftern braucht irrwitzige Brücken und niemand außer Powerliftern muss in einem Bogen drücken, der jede Banane neidisch werden lässt. Wer eine massive Brust aufbauen will, sollte sich viel mehr Gedanken darum machen, die Pecs angemessen zu belasten als darum, wie er mehr und mehr Scheiben auf die Stange packen kann und die dann unter Einsatz der gesamten Oberkörpermuskulatur (denn genau um dies zu ermöglichen haben Powerlifter ja dieses Setup) nach oben zu wuchten. Und das sage ich als bekennender Gegner der sogenannten Guillotine Press, also der Variante des Bankdrückens, bei der die Ellenbogen 90 Grad zum Oberkörper abgespreizt werden und man die Stange zum Hals absenkt. Ein gesundes Mittelmaß halte ich für den durchschnittlichen Trainierenden für die absolut beste Variante. In der Multipresse ist diese Ausführung für die meisten Athleten durchaus möglich, wobei ich selbst bei einer ganz flachen Bank ein leichtes Ziehen in der Bizepssehne habe. Stellt man die Bank jedoch auch nur ein paar cm steiler, so verschwindet das urplötzlich. Warum ist das so? Weil sich auch die Winkel im Gelenk ändern. Habt Ihr schon jemals beim Schrägbankdrücken einen Bogen versucht? Nein? Warum nur? Weil es einfach völlig unnatürlich ist. Daher eignet sich die Multipresse auch so hervorragend für Schrägbankdrücken jeder Art! Gleiches gilt übrigens für das Nackendrücken und auch das sitzende Frontdrücken.
Sicher gibt es auch Übungen, die man – über die volle Bewegungsamplitude – nicht sinnvoll an der Multipresse ausführen kann: Kreuzheben wäre hier ein Kandidat. Für Teilwiederholungen im oberen Drittel eignet sie sich jedoch hervorragend.
Der nächste Kritikpunkt ist die mangelnde Funktionalität. Wenn es im Training nur darum gehen soll, die Muskeln so zu trainieren, dass man einen maximalen Übertrag in den Alltag oder eine andere Sportart hat, dann sollte man in der Tat auf Körpergewichtsübungen, Übungen mit Systemen wir TRX oder eben Freihantelübungen setzen. Wenn es im Training darum gehen soll, Muskeln maximal zu stimulieren, ist das Argument Bullshit! Jaja, ich weiß, die stabilisierende Muskulatur wird in der Multipresse vernachlässigt. In der Tat, das ist richtig. Aus diesem Grund rate ich auch jedem Athleten, egal was sein Ziel ist, dazu regelmäßig mit Freihanteln zu trainieren und unter Umständen auch noch Isolationsarbeit für die Hilfsmuskulatur auszuführen. Aber nochmal: Wenn das Ziel Muskelaufbau ist, spricht absolut nichts dagegen ein so wertvolles Utensil wie die Multipresse zu benutzen, wenn man sich darüber bewusst ist, dass man somit eben bestimmte Muskelgruppen isolierter trainiert, als mit Freihanteln. Wenn die Stabilisatoren ermüden (und das tun sie deutlich früher als die großen Skelettmuskeln), dann ist jedes weitere Training mit Freihanteln ein potentielles Risiko. Jetzt an die Multipresse zu wechseln, ermöglicht es die Zielmuskulatur sicher weiter zu belasten.
Sicherheit ist eh ein Aspekt, den ich an dieser Stelle einmal hervorheben möchte. Gerade wenn man ohne zuverlässigen Trainingspartner trainiert, kann das Training an der Multipresse ein wahrer Segen sein, vor allem, wenn einem kein Power Rack zur Verfügung steht.
Das wohl größte Plus habe ich aber bereits angesprochen: Die Multipresse ermöglicht es bei Verbundübungen volle Konzentration auf die Kontraktion und Dehnung der Zielmuskeln zu legen ohne dabei den Faktor Stabilität beachten zu müssen.
Weiterhin habe ich bereits angedeutet, zu welchem Zeitpunkt im Workout sie idealerweise eingesetzt werden sollte: an zweiter oder dritter Stelle nach den Freihantelübungen. Erfahrene Athleten können von dieser Regel auch abweichen, für den großen Rest wird dies aber die beste Herangehensweise sein.
Das Training an der Multipresse ist eine hervorragende Methode für all diejenigen, denen es primär um Hypertrophie geht. Also keine Angst, keine falsche Scheu…gebt dem hässlichen Entlein eine Chance, vielleicht wird auch aus Eurem Entlein ein stolzer Schwan.
Vielleicht ja eine Alternative für dich, wenn die Witzbolde mal wieder den Power Rack blockieren...